Der Mann, der das Remis im Regen sah: KSC vs Eintracht Braunschweig 1:1 – 22.12.2018
Balli seufzt leise. Mit einem Bierbecher in der Hand schlendert der nicht mehr ganz junge Fußballblogger, der in Wahrheit anders heißt, durch den strömenden Regen und schiebt eine Locke seiner leicht angegrauten Haarpracht zurück unter die blau-weiße Mütze, die ein Wappen von Racing Straßburg ziert. Als wir an den vom Dauerregen morastig gewordenen braunen Erdhaufen hinter dem Bauzaun vorbei laufen, die einst die stolze Nordkurve des Wildparkstadions gewesen waren, zückt er mit einer Hand sein Smartphone. »Hier«, sagt Balli und deutet mit dem Rand des Bierbecher auf den Bildschirm, »fällt Dir was auf? Sie schreiben, dass der Regen mittags zum Spielbeginn aufhören würde. Und was ist? Es regnet in Strömen! An die Fans, die diesen Sport groß gemacht haben, denkt niemand!«
Nachdenklich lässt Balli seinen Blick über die regengetränkten Reste des Wildparkstadions schweifen und betritt schweigend den letzten brauchbaren Stehplatzblock neben der Haupttribüne, um sich zwei Tage vor Weihnachten das letzte Spiel des Jahres in der Dritten Liga zwischen den beiden heruntergekommenen Traditionsvereinen KSC und Eintracht Braunschweig anzuschauen. Es nützt ja nichts, ein Spiel muss immer gespielt werden, bei jedem Wetter…
KSC vs Eintracht Braunschweig 1:1
Rückblende, der Freitag vor dem Spiel. Alois Schwartz sitzt in der winzigen Trainerkabine des Wildparkstadions und betrachtet das abgewetzte Mobiliar, an dem sich schon Heerscharen von Übungsleitern Gedanken über das nächste Spiel gemacht haben. Draußen hatte er mitbekommen, dass sich die in beige gefärbten Rentnerjacken neugierig herumlungernden Trainingskiebitze nur über die Höhe des Sieges gegen Braunschweig unterhalten hatten. »Alle Teams der Dritten Liga sind gut organisiert in der Defensive und lauern auf Umschaltmomente«, sagt er leise vor sich hin. Und fügt halb in Gedanken hinzu, den Blick auf eine kleine Stelle abblätternder Farbe an der Wand gegenüber gerichtet: »Egal, gegen welchen Tabellenplatz wir spielen, diese Liga und die Mannschaften liegen so eng zusammen…«
Entschlossen reißt Alois Schwartz den Blick von der Wand los, steht auf, schließt den Reißverschluss seiner Trainingsjacke und geht, die dauerpiepsenden Sicherheitstöne der unermüdlich auf dem Wildparkgelände werkelnden Baumaschinen ignorierend, hinaus auf den Trainingsplatz. Plötzlich stutzt er, lässt den Blick über die sich in vertrauter blauer Trainingskleidung versammelnden Spieler schweifen und fragt zweifelnd: »Seit wann habe ich einen grauhaarigen Spieler?«
Abstürzende Tradition
Adventssamstag Nummer Vier im Wildpark. Ein grauer Himmel, strömender Regen, dazu eine Baustelle im Stadion. Und mit Eintracht Braunschweig ein Gast, der dem beliebten Topos vom »abstürzenden Traditionsverein« eine Geschichte von neuen Dimensionen hinzufügen möchte. Seit sich beide Teams vor fast genau zwei Jahren zum letzten Mal zu einem Pflichtspiel im Wildpark trafen, ist viel passiert. Damals spielten beide noch in der Zweiten Bundesliga. Der KSC war mit desolatem Fußball und unter stetigem Wechsel des Übungsleiterpersonals auf dem Weg in die Dritte Liga. Die Eintracht spielte damals eine gute Saison und sollte diese auf Rang 3 abschließen und denkbar knapp in der Relegation zur Bundesliga am VfL Wolfsburg scheitern.
Zwei Jahre später kicken beide in der Dritten Liga. Während der KSC in der zweiten Drittligasaison hintereinander einen durchaus erfolgsversprechenden erneuten Anlauf auf den Aufstieg nimmt, steht die Eintracht mit einem Fuß in der Regionalliga. Von den Akteuren, die vor zwei Jahren aufeinandertrafen, war beim KSC niemand mehr dabei. Und bei der Eintracht standen nur noch Torwart Marcel Engelhardt und Stürmer Christoffer Nyman, übrigens lt. Transfermarkt der Spieler mit dem höchsten Marktwert in der Dritten Liga, auf dem Rasen. Auch abseits des Platz nur neue Gesichter. Ob Trainer oder Sportdirektoren – alles längst ausgetauscht…
Adventliche Regenschlacht
14:00, es ist Zeit für den Anstoß. Badnerlied und »Hipp Hipp Hurra KSC« scheppern aus Behelfslautsprechern vor dem Block. Balli steht nun im Stehplatzblock E4 des Wildparkstadions. Sein Stammblock auf der anderen Seite des Stadions ist nur noch ein brauner Erdhaufen. Balli hat den Fußball als Kind lieben gelernt. »Wenn ich ins Stadion gehe, will ich am Spielfeldrand stehen und über mir den Himmel und den Flutlichtmast sehen«, sagt er. In seinen Bierbecher tropfen die letzten Ausläufer der ergiebigen Regengüsse. Das alte Flutlicht, majestätisch auf den 54 Meter hohen Masten thronend, erleuchtet den aufgeweichten Rasen, auf dem Schiri Michael Bacher pünktlich das Match anpfeift…
André Schubert steht, seinen Blick auf seine gelb gekleideten Spieler gerichtet, am Spielfeldrand. Er, der einst als Trainer-Shooting-Star mit Borussia Mönchengladbach Champions League spielte, löste im Oktober den glücklosen Trainer Henrik Pedersen ab. Dreckspritzer vom aufgeweichten Wildparkrasen landen keck auf seinen leuchtend weißen Schuhen. Letzte Woche hatte er im achten Spiel als verantwortlicher Trainer endlich den ersten Sieg eingefahren. Für das schwere Spiel in Karlsruhe hat er sich etwas überlegt. Er wollte defensiv dagegen halten und nach Balleroberung mit schnellem Umschaltspiel Torchancen herausarbeiten…
Schuberts Plan, der eigentlich der Matchplan fast aller deutschen Profi-Mannschaften ist, funktionierte vom Anpfiff weg erstaunlich gut. Die Anfangsphase gehörte seiner Elf und das KSC-Tor stand mehr im Blickpunkt, als das vorher zu erwarten war. In der sechsten Minute gab es eine Ecke für die Gäste, die Putaro von rechts reinschlug. KSC-Keeper Uphoff segelte in alter Orle-Manier am Ball vorbei und Philipp Hofmann vollstreckte per Kopf zur überraschenden Führung der Braunschweiger…
Der Regen hatte aufgehört, Balli hatte die Kapuze gelockert und sah das Geschehen zum 0:1 mit Kopfschütteln. »Wenn er rauskommt, muss er ihn haben!« sagt er und nimmt einen tiefen Schluck aus dem Bierbecher…
Alois Schwartz trieb seine Mannschaft nach dem Rückstand nach vorne. Die Blau-Weißen drückten auf den Ausgleich und Schubert sah voller Sorge, wie seine Mannschaft in eine Dauer-Abwehrschlacht fast ohne Atempausen verwickelt wurde. Die letzten 15 Minuten vor der Halbzeit sahen ein KSC-Powerplay wie beim Eishockey in Überzahl. Die Gelb-Blauen machten es aber sehr clever. Sie gaben das Mittelfeld fast auf, riegelten den eigenen Strafraum aber energisch ab und verunmöglichten dem KSC, auf dem rutschigen Boden das von den letzten siegreichen Spielen gewohnte Herausspielen der Torchancen aufzuziehen. Mit dem 0:1 ging es in die Pause…
Balli seufzt erneut leise, als der Schiri zur Halbzeit pfeift. »Da muss offensiv mehr kommen« sagt er, während er sich gemächlich auf den Weg zum Bierstand macht. Und es kommt mehr, denn in der Zweiten Halbzeit beginnt es wieder ergiebig zu regnen…
Die Blau-Weißen setzten nach Wiederanpfiff ihren Sturmlauf fort und wurden schnell belohnt. In der 50. Minute gab es einen Freistoß für den KSC, aus leicht nach links versetzter zentraler Position in ca. 22 Metern Entfernung. Es kursiert, besonders in Kreisen der Kommentatoren von Telekom Sport, der Mythos einer Karlsruher »Stärke durch Standards«. De facto hatte Wanitzek aber genau einmal per Freistoß getroffen, am ersten Spieltag im Hinspiel in Braunschweig. »Das mache ich nochmal«, dachte sich der Mittelfeldspieler, und versenkte den Freistoß unhaltbar in den Winkel zum 1:1-Ausgleich…
»Jetzt werden wir noch gewinnen«, sagt Balli und nimmt einen tiefen Schluck aus dem Bierbecher…
Das stellte sich aber als schwieriger als gedacht heraus. Mit zunehmender Dauer erlahmte die Wucht der KSC-Angriffe, außer einem Lattentreffer von Wanitzek (69.) gelang dem KSC kaum noch ein gefährlicher Abschluss. Der immer stärker werdende Regen kam als erschwerender Faktor dazu und erleichterte den Braunschweigern die Verteidigungsarbeit. Mit dreckverschmierten gelben Trikots fuhren sie einen verdienten Auswärtspunkt ein und können mit der Ausbeute von vier Punkten aus den letzten zwei Spielen die Feiertage nun etwas optimistischer genießen…
Auf in die Winterpause!
André Schubert schaut zufrieden auf seine trotz Regen noch immer weißen Schuhe und verkündet: »Wir sind froh, hier einen Punkt geholt zu haben.« Sein Kollege Alois Schwartz schüttelt sich hingegen die Nässe von der Jacke und ist unzufrieden: »Ich habe schon ein weinendes Auge, der Himmel hat auch geweint nach dem Spiel. Denn eigentlich waren drei Punkte drin…«
Und Balli? »Nun, man kann nicht jedes Spiel gewinnen, nach der Winterpause geht es weiter! Neues Spiel, neues Glück!« sagt er, zieht die Kapuze fest zu und verschwindet schweigend in den Regen und die Dunkelheit, die das waldige Areal rund um das Wildparkstadion längst in Beschlag genommen hat…
Aufklärerische Randbemerkung: Sämtliche Zitate und »stimmungsvolle« Details, die über das Geschehen im Spiel hinausgehen, sind natürlich aus dramaturgischen Gründen entweder frei erfunden oder irgendwo aufgeklaubt und in einen anderen Kontext gesetzt worden. Damit ist dieser Blogpost eine ironische Hommage an die preisgekrönten Starjournos vom Spiegel, wo man das Konzept der mit für die Faktenvermittlung irrelevanten erzählerischen Details angereicherten Reportage perfektioniert und nicht nur in Person des »schillernden« Claas Relotius kultiviert hat…