Warum Nationalmannschaften im Profifußball des 21. Jahrhunderts überflüssig sind
Na, verehrte Leserinnen und Leser, haben Sie sich auch bei der großen Fußball-Sommerpausenüberbrückung, der Europameisterschaft in Frankreich, in zahllosen Spielen köstlich gelangweilt? Oder haben Sie mit den »edlen Wilden« des Turniers, dem Team aus Island, das sich zweifellos beeindruckend konsequent durch das Turnier gedarmstadtet hat, gefiebert und sind nun von einem elfenhaften lyrischen Außenseiterfantum beseelt?
[Foto: »DSC04767 EURO2016 : FRANCE - ROUMANIE ; 10 JUIN 2016« auf Flickr, CC BY-NC-ND 2.0 von Sylvie Jr. Merci!]
Wie immer Sie das auch wahrgenommen haben, in einem dürfte niemand widersprechen: Die Zeiten, in denen die EM- und WM-Turniere die großen Festtage des Fußballjahrs waren, sind unwiderbringlich vorbei. Etwas aufgebläht und von Korruption im Verbands- und Veranstalterumfeld durchsetzt, werden die Turniere in den letzten Jahren sportlich immer bescheidener und taugen eigentlich nur noch als Überbrückungshilfe für die Sommerpause der Ligen. Die Entwicklung des Vereins-Fußballs zu einem internationalisierten und kommerziell durchorganisierten Ganzjahresspektakel, befeuert durch die neuen Möglichkeiten des Zusammengehens von TV und Internet, hat den Rahmen des Nationalen längst gesprengt. Und die »alten« Turniere wirken wie ein Relikt einer untergegangenen Zeit. Von daher gilt:
Nationalmannschaften sind im Profifußball des 21. Jahrhunderts überflüssig!
Das ist natürlich eine steile These. Und am Anfang jeder steilen These, die etwas auf sich hält, steht ebenso natürlich ein »historischer Abriss«.
Warum gibt es überhaupt Nationalmannschaften?
Geboren aus dem monetären Verlangen des englischen Profitums
Bekanntlich entstand der moderne Fußball Mitte des 19. Jahrhunderts in England. Und schon 1872 (1862 wurde der erste Verband, die englische FA gegründet) fand das erste Länderspiel der Fußballgeschichte zwischen Schottland und England in Glasgow statt. 1885 führte man in England das Profitum ein, und hatte damit die Notwendigkeit, ausreichende Gelegenheiten zum Spielen (sprich: Geld verdienen) zu schaffen. Deshalb wurde 1888 die professionelle »Football League« gegründet, und die »Home Nations« (England, Schottland, Wales, Nordirland) auf den britischen Inseln spielten 100 Jahre lang die »British Home Championship« mit den Auswahlmannschaften ihrer Verbände aus.
Ziel dieser organisierten regelmäßigen Länderspiele und Turniere war die Etablierung professioneller Strukturen und die Popularisierung des noch recht jungen Spiels. Natürlich gab es am Ende des 19./ zu Beginn des 20. Jahrhunderts kein Fernsehen, keine Flugzeuge und kein Internet. Wer Fußball sehen wollte, musste zum Fußballplatz gehen. Und wer einmal die aus den Zeitungen bekannten ersten »Stars« des Fußballs live spielen sehen wollte und nicht gerade in den Hochburgen des englischen Fußballs lebte, musste zu den Länderspielen gehen. Entsprechend groß waren die Zuschauerzahlen (und die Einnahmen). Das erste Spiel im damals zweitgrößten Stadion der Welt, dem Hampden Park zu Glasgow, zwischen Schottland und England sahen schon 1906 über 100.000 Zuschauer.
Angereichert mit festlandseuropäischem Sportsgeist
Der Fußball in Kontinentaleuropa hinkte diesen Entwicklungen Jahrzehnte hinterher. Englische Studenten brachten das Spiel in die Universitätsstädte Kontinentaleuropas, wo es u.a. auch der legendäre Fußballpionier Walther Bensemann kennen und lieben lernte. Als 16-jähriger Schüler kam er ans Gymnasium nach Karlsruhe und begann, Fußballmannschaften zu gründen und Spielbetrieb zu organisieren. Schenkt man den Überlieferungen glauben, so war Bensemann durchaus von edlen Motiven beseelt. Er wollte das Spiel popularisieren und den Aktiven in den deutschen Städten Gelegenheit zu Spielen gegen Fußballer aus anderen Ländern geben, um nicht immer nur gegen die selben Spieler aus der gleichen Stadt spielen zu müssen.
Dazu organisierte Bensemann Auswahlmannschaften und bemühte sich um »Länderspiele«. Einen nationalen Verband (den DFB) gab es noch nicht, ergo organisierte er diese selbst. Diese, u.a. auf dem Engländerplatz in Karlsruhe ausgetragenen und heute (wg. der DFB-zentrischen »offiziellen« Sichtweise) »Ur-Länderspiele« genannten Spiele, waren die ersten Begegnungen mit den professionellen Kickern aus England und erreichten ihr Ziel. Es gab zwar hohe Niederlagen gegen die Profis, aber sie gelten als Meilenstein für die Entwicklung des Fußballs in Deutschland. Nach der Gründung des DFB wurden sie deshalb gleich zur festen Einrichtung und schon in der Weimarer Republik die Haupteinnahmequelle des jungen Verbandes.
Fassen wir zusammen, warum wurden Länderspiele »erfunden«?
- Zur Verbreitung und Popularisierung des »neuen« Spiels Fußball.
- Zur Schaffung von Spielgelegenheiten für das (englische) Profitum.
- Für Begegnungen mit Aktiven aus anderen Ländern, um diese kennen zu lernen und davon zu lernen.
- Für Förderung der Völkerverständigung. (Zumindest bei einigen.) Wer miteinander Fußball spielt, der schießt nicht aufeinander. Zumindest theoretisch…
Länderspiele wurden Festtage des Fußballs
Fußball wurde schnell »groß«. Inmitten der politischen Wirren des 20. Jahrhunderts (zwei Weltkriege, der Kalte Krieg) etablierte sich der internationale Spielbetrieb. Schon 1916 wurde die Copa America erstmals veranstaltet. Die WM wird seit 1930 ausgespielt, seit 1960 die Europameisterschaft (wenn auch lange in einem sehr kleinen Rahmen).
Die großen Turniere wurden ebenso populär wie der Fußball selbst. Bis weit in die 90er Jahre hinein waren die Vereine noch mehrheitlich national oder regional besetzte Teams, höchstens mit 1 oder 2 Ausländern als »Stars« aufgelockert. Aber nur die großen WM- und EM-Turniere waren Gelegenheiten, die Stars fremder Länder im Stadion und (seit den 50er Jahren) auf dem heimischen TV-Schirm in Aktion zu sehen. Und für die Aktiven die Gelegenheit, sich mit den besten Spielern anderer Länder zu messen. Die Spiele waren Festtage, die sich deutlich von der Alltagskost in der Liga unterschieden. Nicht zufällig sagt man noch heute über Spiele mit einer großen und stimmungsvollen Kulisse, es herrsche dort »Länderspielatmosphäre«.
Und natürlich spielte auch die Politik immer eine Rolle. So gilt die WM 1954 als Meilenstein für die Rückkehr des Täterlandes Deutschland in die internationale Gemeinschaft. Obskure Regimes aller Art sahen eine gute Nationalmannschaft oder ein großes Turnier als geeignete Propagandamaßnahme an. Exemplarisch steht dafür die Fußball-WM 1978 im von der Militärjunta des Generals Videla regierten Argentinien.
Legendäre Spiele wie das Halbfinale in Wembley 1966 oder das »Jahrhundertspiel« 1970 in Mexiko gingen in das kollektive Gedächtnis der Nation ein, hatten geradezu »nationbildenden« Charakter. Rückblickend kann man sagen, dass die Zeit zwischen den 60ern und den 90ern die Blütezeit der großen Nationalmannschaften und der von ihnen geprägten Turniere waren.
WM und EM als Gelddruckmaschinen der Verbände
Weil die Turniere so populär wurden, bewarben sich immer mehr Länder (eigentlich Verbände) um die Ausrichtung. Hatte man bis in die 70er einfach ein Land genommen, was genug Stadien verfügbar hatte, begann man mit der WM 1974 in Deutschland damit, für das Turnier neue Stadien zu bauen oder bestehende auszubauen. Das setzte die Gigantismus-Spirale der WM-Vergaben in Gang, die mit den klickenden Handschellen an den Handgelenken vieler FIFA-Funktionäre im letzten Jahr endete. FIFA und UEFA erwirtschafteten durch die Turniere immer mehr Geld. Davon profitierten auch die Mitgliedsverbände, insbesondere jene aus ärmeren Regionen der Welt nehmen dadurch gleich mehrere Jahresetats ein. Und deshalb wollen auch immer mehr Verbände mitspielen, was zu langatmigen Qualifikationsrunden mit vielen uninteressanten Spielen führte.
Das Resultat sieht man bei der aktuellen EM: Zwei Wochen lang gibt es eine unfassbare Menge von Spielen auf teilweise bescheidenem Niveau, nur um die Teilnehmerzahl von 24 auf die logischen 16 zu reduzieren.
Der Profifußball nach Bosman
Parallel dazu wandelte sich der Profifußball durch die Auswirkungen des Bosman-Urteils dramatisch. Durch den Wegfall der Ausländerbeschränkungen entwickelte sich der Fußball zu einem internationalisierten und durchkommerzialisierten Sport. Die europäischen Ligen begannen, sich aus dem traditionellen Verbandswesen auszuklinken (Premier League 1992, DFL 2001) und durch ihre ökonomische Kraft zum Sammelpunkt der internationalen Top-Fußballer zu werden. Durch die technische Entwicklung im Zusammenwachsen von TV und Internet sind diese auch noch ortsunabhängig fast jederzeit zugänglich. Die Turniere der Verbände verloren ihr kostbarstes »Asset«: Der einzige Ort im Fußball zu sein, wo man die großen Spieler gegeneinander spielen sehen konnte.
Ergebnis: Die Wachablösung!
Denn wer heute die besten Fußballer der Welt spielen sehen will, der wartet nicht mehr auf ein WM- oder EM-Turnier. Sondern schaut sich statt dessen Woche für Woche die Spiele von La Liga, der Premier League oder der Bundesliga an. Dazu kommt die große Bühne der Champions League mit ihrer monatelangen Präsenz durch die Gruppenphase.
Die Turniere der Nationalmannschaften haben ihren Ausnahmecharakter verloren. Die »Fußball-Musik« spielt nun in den großen Vereinen. Die Nationalmannschaften, mit den Turnieren und ihren dazwischen liegenden langwierigen Qualifikationsrunden, werden für die Stars zu einer lästigen Pflichtübung.
Daran ändert auch die »Eventisierung« der Turniere seit der WM 2006 nicht. Seit dem so genannten »Sommermärchen« ziehen die Turniere zwar auch ein fußballfremdes Eventpublikum an und mobilisieren breite Schichten der Gesellschaft. Dem sportlichen Bedeutungsverlust werden sie damit aber nicht aufhalten können.
Fazit: Im 21. Jahrhundert sind Nationalmannschaften und ihre Turniere überflüssig
Fassen wir zusammen: Die Turniere der Nationalmannschaften haben ihr herausragendes Merkmal, nämlich der Sammelpunkt, das Turnier der besten Fußballer zu sein, an die großen Profi-Ligen mit ihren reichen Vereinen verloren. Dazu sind die veranstaltenden Verbände von Korruption geschüttelt und die Turniere durch aufgeblähte Spielpläne sportlich entwertet worden.
Der Fußball holt im Grunde nur nach, was in anderen Profisportarten längst normal ist. So wurde die Tour de France lange in Nationalmannschaften gefahren. Es stellte sich aber heraus (schon in den 60er Jahren), dass die Loyalität der Helden der Landstraße in erster Linie ihren Fabrikteams gehörte. Konsequenterweise schaffte man daher die Nationalteams im Profiradfahren ab und fährt seitdem die Saison fast ausschließlich in den international besetzten Rennställen. Die Nationalteams sind nur noch »Zombies«, die einmal im Jahr zur Straßen-WM und alle vier Jahre für Olympia noch einmal eine Runde Ausfahrt bekommen. Auch in den nordamerikanischen Profisportarten Basketball, Football oder Eishockey ist das längst so. Der Cup der länderübergreifenden Profiligen ist alles, die Nationalmannschaften, so sie überhaupt existieren, Nebensache.
Von daher: Die Zeit der Fußball-Nationalmannschaften und ihrer Turniere ist vorbei. Sie sind aus kommerziellen Gründen am Leben gehaltene Zombies, die im Grunde abgeschafft werden können. Die Spitze im Fußball sind nun die großen Vereine, die wichtigen Titel sind die Meisterschaften der großen Fußball-Ligen und das wichtigste internationale Turnier ist die Champions League.
Natürlich werden die Nationalmannschaften und ihre Turniere nicht abgeschafft. Dazu sind sie kommerziell zu lukrativ und die Haupteinnahmequelle der kleineren Verbände. Aber es wird wohl bald »zwei Fußballs« geben: Den normalen Liga-Klub-Fußball, den wir Ganzjahresfans verfolgen. Und die medial aufgebauschte, sportlich aber zunehmend hinter den Klubfußball zurückfallende Welt des Nationalmannschaftsfußballs, der von den »Alle-vier-Jahre-Fußball-Guckern« verfolgt und beim so genannten »Public Viewing« gefeiert wird. Auf den aber selbst eingefleischte jahrelange Nationalmannschaftsfans wie der Trainer Baade langsam keine Lust mehr haben…